Dieses Jahr wollte ich meinen Urlaub in den Masuren.verbringen. Ein grober Blick auf der Landkarte läßt mein Flußpiratenherz sofort höher schlagen: Nämlich 3000 Seen, riesige Wälder und ein weit verzweigtes Flußnetz. Mein Entschluß steht fest. Zwei Wochen lang will ich die einzigartige Wald- und Seenlandschaft im Nordosten Polens mit dem Kanu durchstreifen und anschließend noch einmal mit dem Fahrrad.

Mit mir fährt noch die Irmgard, mit der ich schon einige schöne Touren unternommen habe. Nach 17 Stunden haben wir endlich die 1200 Kilometer bis in die Masuren geschafft, davon ein großer Teil über Landstraße. Wir entschließen uns, mit der Fahrradtour zu beginnen. Das Auto mit dem Boot stellen wir daher bei Bekannten ab. Bereits am nächsten Tag surren unsere Fahrräder auf polnischem Asphalt.

700 Kilometer wollen erobert werden. Die nächsten 14 Tage spielen sich wie ein Film aus einer anderen Zeit vor uns ab. Auf den so typischen Alleen tingeln noch viele Fußgänger von Dorf zu Dorf. Es gibt nur wenige Autos hier. Ich habe selten so viele ausdrucksstarke Wolkenbilder gesehen. Sie kommen alle vom nah gelegenen Meer und ziehen im hohen Tempo über uns hinweg. Störche haben ihre Nester auf Telegraphenmasten errichtet, und ich höre ihr emsiges Klappern.

Ein Pferdegespann mit zwei alten Leuten darauf kommt uns entgegen. Kinder spielen Gedanken verloren mit Murmelsteinen auf staubigem Boden, und Männer mit Wetter gegerbtem Gesicht trinken Bier. Nicht zu vergessen die liebevoll geschmückten Marienaltärchen am Wegesrand oder die alten, verwitterten Dörfer, deren Durchquerung per Rad einem"Dorfköterspießroutenlauf" über holprigem Kopfsteinpflaster gleichkommt. Je weiter wir uns der weißrussischen Grenze nähern, umso ärmer wird die Gegend. Ich muß mir eingestehen, daß diese Armut mir ein wenig auf's Gemüt schlägt. Umso idyllischer, wilder und einsamer ist die Landschaft hier. Ein See löst den anderen ab. Durch dichtes Laubwerk schimmern sie immer wieder hindurch. Noch 30 Kilometer! Und wir haben unser Ziel erreicht, nämlich da wo unsere Tour begann. Ich habe das Gefühl, schon sehr lange unterwegs gewesen zu sein. So viel erlebt... So viel gesehen... Noch soviel zu verarbeiten... Bilder aus den Masuren!

Einen Tag später bepacken wir unser Kanu. Wie ein Indianerboot schaukelt es sanft im Wasser von der Czarna Hamcza, einem Flüßchen, welches durch urwaldähnliches Gebiet führt. Im Anschluß daran wollen wir noch den Krutinija paddeln, der zu 60 % die masurischen Seen durchquert. Diese beiden Flüße gehören mit zu den schönsten in Europa. Das Wasser der Czarna Hamcza ist glasklar. Ich habe sogar Flußkrebse darin entdeckt. Mir kommt es vor,als gleiten wir über ein Aquarium mit sandigem Boden, vereinzelten Steinen und Pflanzen darin. Fische flitzen wie Pfeile neben dem Boot her. Wie große Teppiche breiten sich manchmal die Wasserpflanzen über die Wasseroberfläche aus.

Sei es ein Teppich voller blühender Seerosen mit großen Blättern, oder auch ein anderer Teppich, bestehend aus 2-3 Meter langen Seegräsern, die sich fast tänzerisch im Wasser mit der Strömung bewegen; wir sind darüber hinweggeglitten. Es gibt Stellen wo der Fluß bis zu vierzig Meter breit wird und wir müssen aufpassen, daß wir uns in einem Labyrinth von Schilfinseln nicht verfahren. Ein anderes mal ist die Czarna nur zwei Meter breit und zwängelt sich durch meterhohes Schilfwerk.

Einige alte Frauen hocken am Ufer und preisen Apfelkuchen an, um sich ein paar Sloties zu verdienen. Teilweise erinnert die Czarna an ein kleines Gebirgsflüßchen, wenn sie sich über Stock und Stein plätschernd zwischen sandigem Steilufer windet. Wie ein Regenwurm mäandert unser Fluß in unzähligen Schleifen durch den Augustower Urwald. Alte Bäume säumen das Ufer, und so mancher mächtige Stamm liegt quer zur Strömung. Vorsichtig manövrieren wir uns durch das kahle Geäst, welches aus dem Wasser ragt und an ein riesiges Hirschgeweih erinnert. Auf einigen Stämmen, die moosbewachsen im Wasser liegen, wächst Farn oder Gras. Schmetterlinge tummeln sich darauf herum. Phosphorblaue Libellen fliegen unruhig über's Wasser. Hin und wieder sitzt eine auf unserem dahingleitenden Boot, um sich auszuruhen.
Ich höre die unterschiedlichsten Vogelstimmen. Einen Vogel habe ich besonders liebgewonnen, obwohl ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe. Doch sein Laut fasziniert mich. Er klingt dumpf, als wenn jemand in eine Glasflasche hineinbläst. Ich stelle mir vor, als wenn jener Vogel mit einem chinesischen Reishut im Schilf sitzt, die Beine überkreuz, und dabei in eine leere Flasche Diebels Alt hineinbläst. Unser Flüßchen passiert noch einmal ein kleines Dorf aus verwittertem Holz und einigen kläffenden Hunden. Dann vermischt es sich mit dem Wasser vom Augustowski Kanal, der uns über einige Seen bis zu unserem Ziel hinführt.

Etwas breiter als die Czarna Hamsza ist der Krutinija. Er führt uns über mehrere Seen, einer schöner als der andere. Wie auf einer Perlenkette sind sie aneinandergereiht. Sie haben die unterschiedlichsten Formen und Farbnuancen. Es gibt ganz kleine Seen, die an einen verkrauteten Dorfweiher erinnnern. Andere wiederum sind bis zu 12 Kilometer lang und 3 Kilometer breit. Wenn hier der Wind drüberweht, dann türmen sich die Wellen auf und unser gutmütiger Mohawk schlingert wie eine kleine Nußschale zwischen den Wassermassen. Am Abend flauen die Winde immer ab.

Wie große Zauberspiegel liegen dann die Seen in einer herrlich bewaldeten Hügellandschaft. Höhepunkt ist der Sonnenuntergang. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an die Abendstimmung am Wigrysee wo auch ein Kloster steht. Stolz thront es auf einer Halbinsel mit Blick auf den See. Lautlos gleitet unser Kanu über die spiegelglatte Wasseroberfläche und teilt das Wasser in zwei Hälften. Die Abendsonne wirft ihre letzten Strahlen darauf. Mit einmal funkelt und glitzert der See in einem geheimnisvollen Rot. Zunehmend wird es dunkler und das hell beleuchtete Kloster taucht immer wieder zwischen den Bäumen auf. Ehrfürchtig paddeln wir bis zu der Mitte des Sees und plötzlich liegt es in seiner ganzen Pracht vor uns. Wie schön!

Auf dem Krutinija gibt es eine Stelle, wo ein Stichgraben durch sumpfigen Erlenwald führt und zwei Seen miteinander verbindet. Er hat so wenig Wasser, daß wir unser voll beladenes Kanu hindurchtreideln müssen. An einer anderen Stelle liegt ein Baum quer. Mühsam hieven wir unser Boot über das Hindernis. Ich komme mir vor wie auf einer Expedition am Amazonas. Blutegel und Krokodile gibt es Gott sei Dank nicht. Stattdessen allerdings blutsaugende Stechmücken und gefährlich aussehende Schwäne.

Wir kommen durch Landstriche, wo ganze Waldstücke von Bibern angenagt worden waren. Irgendwann einmal ist das komplette Flußbett plötzlich knallrot. Es sind jene sagenumwogene Blutsteine, die sich in Verbindung mit einer nur im Krutinija wachsenden Algenart verfärben und das Flußbett rot leuchten lassen. Unsere Tour beenden wir auf einem der spektakulärsten Campingplätze Polens, der von der Aufmachung her wie ein Wikingerlager aussieht, inklusiv schaukelnder Wikingerschiffe, strohbedeckten Pfahlbauten und einem herrlich angelegten Holzskulpturenpark. Den Krutinija mit seinen sagenumwogenen Blutsteinen und Zauberspiegeln und auch die Czarna Hamcza, wo jener Vogel zu Hause ist, werde ich nie vergessen. Ich trage beide Flüße in meinem Herzen!

Übersicht Reiseberichte

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Auf polnischem Asphalt

Der Czarna Hamcza

Der Krutinija

M A S U R E N

      Land der tausend Seen...